Diese Mittelspurbremser!
Neulich war ich eine längere Strecke auf der Autobahn unterwegs. Hin und wieder nutzte ich die Mittelspur, um, wie andere vor mir, an Brummis vorbei zu kommen. Zügig absolvierte unsere Überholstaffel die Lkw-Kolonne. Bis ein alter, beigefarbener Mitsubishi zwischen den Giganten hervorkroch und sich drei Fahrzeuge vor mir abmühte, voranzukommen. In Bruchteilen von Sekunden verursachte er hinter sich eine Reihenschaltung an Bremslichtern. Das betagte Vehikel kam nicht zu Potte, was allen missfiel, die durch ihn ausgebremst wurden. Talabwärts fahrend, bekam ich von erhöhter Position aus einen weitreichenden Blick auf das, was folgte:
Wütendes Blech
Der Audi, direkt hinterm Schleichenden, fuhr dicht auf, bis er eine Lücke auf der linken Spur nutzte, um, Haken schlagend, auszuscheren. Mit Vollgas preschte er heran, bremste auf Höhe des Mitsubishi ab und blieb ein paar Sekunden gleichauf, bevor er erneut Gas gab, endgültig vorbei zog und kurz vorm Schleicher einscherte. Das gleiche Manöver vollführten nacheinander ein Peugeot und ein Mercedes. Einer nach dem anderen überholte zackig Vollgas gebend, blieb für einen Moment neben dem Ausbremser, bis der Düsenantrieb zündete und man von dannen zog.
Bald näherte ich mich dem Langsamfahrenden, setzte zum Überholen an und zog kontinuierlich an ihm vorbei. Ich wagte einen kurzen Blick auf die lenkende Person. Ein Mitte Achtzigjähriger umklammerte krampfhaft das Lenkrad.
Begegnung
Kurze Zeit später gönnte ich mir eine Pause. Wieder raus aus dem Haus, in dem Rastende automatisch die Hände gewaschen bekommen, nahm ich meine Maske ab und lief gegen den Strom Entgegenkommender. Unter ihnen ein alter Mann, der etwas langsameren Schrittes unterwegs war. Ich erkannte Herrn Mitsubishi und lächelte.
„Danke“, sagte er und blieb stehen. Fragend sah ich ihn an und stoppte ebenso. „Sie waren bis jetzt die einzige aller Überholenden, die mich NICHT beschimpft hat.“ Das erstaunte mich. „Aus den Augenwinkeln konnte ich die unschönen Gesten und die wütenden Gesichter wahrnehmen. Dagegen von Ihnen überholt zu werden, war eine Wohltat.“ Meine schulterzuckende Antwort: „Ich habe keinen Grund, wütend auf Sie zu sein.“
Bekenntnis
Resigniert schüttelte er den Kopf. „Es war eine Schnapsidee, mich ins Auto zu setzen und einfach drauf los zu fahren. Die letzten Jahre bin ich nur zwischen Supermarkt und Garage gependelt.“
„Sie müssen sich vor mir wirklich nicht rechtfertigen.“ Mit einem Nicken setzte ich an, meinen Weg zum Auto fortzusetzen. Doch redete er sich mehr von der Seele. „Es gab keine Chance, heute früh ein Zugticket zu bekommen. Alle Züge überfüllt. Und ich hätte fünfmal umsteigen müssen. Da wäre ich heute nicht mehr angekommen. Ich habe nicht so viel Zeit, weil ich dringend nach Flensburg muss. Heute früh erfuhr ich, dass mein Bruder im Sterben liegt und dass er mich so gern noch einmal…“
Weiter sprach er nicht. Früher hätte ich diesen mir fremden Menschen in so einem Moment spontan umarmt. Die Pandemie und mein Immundefekt schieben sich heute wie ein eiserner Riegel genau vor diesen Impuls. Ich berührte ihn nur am Arm: „Konzentrieren Sie sich jetzt aufs Autofahren. Ohne Zeitdruck. Ihr Bruder wird auf Sie warten.“ Er blickte auf. „Meinen Sie?“
„Ich weiß es. Haben Sie eine gute Zeit mit Ihrem Bruder.“
Er bedankte sich und verschwand im Rasthaus. Ich nahm einen tiefen Atemzug und bat ein paar Schutzengel, Herrn Mitsubishi sicher ans Ziel zu geleiten.
Meine Panik, zerquetscht zu werden
Anfang der Neunziger hatte ich bei meinen wöchentlichen Autobahnfahrten zum Ausbildungsplatz riesigen Bammel. Eingeklemmt zwischen dröhnenden Lkw war es mit 26 PS unterm Hintern schwierig, auszuscheren und huldvoll lächelnd mit einer Queen-Winkbewegung an den Giganten vorbei zu gleiten. Traute ich mich doch einmal, schaltete ich zwei Gänge runter und trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Genau in diesen Momenten rauschte von hinten ein Flitzer heran, dessen genervte Lichthupe schrie, ich möge mich auf der Stelle vom Acker machen. Dann vollführte ich auf dem Autositz schwungvolle Vorwärtsbewegungen wie auf einem Rudergerät, um meinem Vehikel zusätzlichen Schub zu verleihen. Nahmen die Drängelnden an, ich schleiche absichtlich?
Urteile nie über einen Menschen…
… wenn Du nicht eine Meile in seinen Stiefeln gegangen bist. Ein Sprichwort, das uns oftmals nicht rechtzeitig in den Sinn kommt. Ich nehme mich nicht aus. Doch:
Wer weiß, warum…
… Frau Müller zu jeder Jahreszeit einen Strohhut trägt
… Petra nach wie vor die Maske auf hat und
… Herr Mitsubishi sich auf die Autobahn wagt.
Allzeit gute und entspannte Fahrt!
Eure Petra