Herzen aus Stein

Herzen aus Stein

2. Oktober 2022 Aus Von Petra Carlile

Heute ist der zweite Oktober. Das Wetter ist herbstlich und nasskalt. Saisonstart für Erkältungskrankheiten, die wir Menschen mit Immundefekt uns nicht leisten können. Beängstigend dabei ist, dass für uns seit Mitte Juni die gesicherte Versorgung mit wichtigen Antikörperpräparaten nicht mehr gewährleistet ist. Und die Lage spitzt sich zu, denn der Lieferstopp des Präparates, das ich mit vielen anderen dringend benötige, hält weiter an; Präparate anderer Hersteller sind nicht in ausreichender Menge verfügbar. Die ersten Immundefekt-Patint:innen sind erkrankt, teils schwer. Es werden nicht die Einzigen bleiben.

Anhaltendes Verharren in Berlin

Viele meiner Mitpatient:innen, Angehörige und viele unserer Freunde haben sich meinem OFFENEN BRIEF vom vierten September an den Bundesgesundheitsminister angeschlossen und die Lage eindringlich geschildert; in Briefen und E-Mails, unter anderem an den Spitzenverband der GKV, ans Bundesgesundheitsministerium, ans Bundeskanzleramt, an die Patientenbeauftragten der Bundesregierung und unsere Bundestagsabgeordneten und Landesregierungen. Vom Bundesgesundheitsministerium oder gar vom Bundesgesundheitsminister erhielt ich bis heute keine Antwort. Lediglich einzelne Bundestagsabgeordnete und Landesregierungen ziehen Erkundigungen in Berlin ein, die sie umgehend an uns weiter leiten. Leider sind diese nicht hilfreich, enthalten sie genau die fadenscheinigen Antworten, die der GKV seit letztem Dienstag nun allen Betroffnen antwortet.

Tick tack…. die Zeit verrinnt

Neben der heißen Luft in der GKV-Antwort spiegeln deren Worte lediglich wider, wie viel Zeit inzwischen verstrich, in der sich der Gesundheitszustand von Mitpatient:innen verschlechtert, in der Jobs wegen wiederholter langer Krankheitsausfälle gefährdet sind, in der die Sorge um das eigene Leben ins Unvorstellbare steigt. Weder eine Spur von konkretem Handeln, um Lösungen zu finden noch ein ehrliches Zugehen auf den Hersteller, der immer wieder zu Gesprächen lädt.

Etwas Gutes wird zum Problem

Das Immunglobulin-Präparat cutaquig löste 2020 offiziell den Vorgänger gammanorm ab. Das Neue an cutaquig ist unter anderem:

  • anderer Herstellungsprozess
  • zusätzliche Virusinaktivierung
  • geänderte Zusammensetzung
  • Verwendung anderer Stabilisatoren
  • anwendungsfreundlicher

Cutaquig durchlief ein eigenständiges Zulassungsverfahren mit sämtlichen klinischen und präklinischen Studien bis zur Zulassung 2019.

Der GKV-Spitzenverband holt jedoch den § 130a V SGB ff hervor, stempelt cutaquig zu einem Nachahmer von gammanorm ab und bestimmt, dass für cutaquig die gleichen Rabatte gewährt werden müssen, wie vorher für gammanorm – und zwar rückwirkend zu und zum Preisstand von 2009!

Gutes Gesetz mit fragwürdiger Umsetzung

An sich ist dieses Gesetz wichtig. Soll es doch verhindern, dass Pharmaunternehmen Preiserhöhungen begründen, indem sie ein bestehendes Produkt lediglich umbenennen oder anders verpacken. Da bin ich ganz bei Ihnen, sehr geehrte Gesetzgeber!

Fatal ist jedoch, dass dieses Gesetz gleichzeitig von denen mit Füßen getreten wird, die es mit der Holzhammermethode versuchen, umzusetzen. Denn weiter heißt es im Gesetz: „… gleichzeitig soll das sogenannte ‚erweiterte‘ Preismoratorium nicht dazu führen, dass zur Verbesserung der Versorgung der Versicherten beitragende Weiterentwicklungen bewährter Wirkstoffe und Innovationen gehemmt werden…“. Aber genau das passiert hier: Das „erweiterte Preismoratorium“ wird missbraucht, um eine eigenständig zugelassene und damit bestätigte Weiterentwicklung, zu torpedieren!

Schon bessere Witze gehört

Langweilig wird auch die folgende Information nicht, die Octapharma am 12. September, also EIN VIERTEL JAHR nach Ausruf des Lieferstopps, vom GKV erhielt: Man setze cutaquig gammanorm gleich, weil beide Produkte aus Blutplasma hergestellt und beide Produkte subkutan appliziert werden.

Analogie einer Mitpatientin und guten Freundin:
Das ist das Gleiche, als würde man hinsichtlich des CO2-Ausstoßes ein dieselbetriebenes Auto mit einem Elektro-Fahrzeug des gleichen Herstellers vergleichen und zum Schluss kommen: Das Elektro-Modell ist genau das Gleiche, wie das dieselbetriebene, denn beide haben vier Räder und fahren auf der Straße.
Lustig? Uns ist das Lachen schon lange vergangen.

Gesprächsbereitschaft nur bei Octapharma

Nach wie vor bin ich frustriert, weil Octapharma mein Präparat nicht mehr liefert. Noch dazu in einer Zeit, in der alle anderen Hersteller mit Lieferengpässen kämpfen. Doch Octapharma stellt sich ganz offen allen Anfragen von Presse und Medien, egal, wie kurzfristig. Aber das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte meint, es gäbe genug Alternativpräparate (was nicht zutrifft!) und der GKV-Spitzenverband wiegelt mit fadenscheinigen Erklärungen ab und meint beschwichtigend, man stünde mit dem Hersteller im Austausch. Octapharma: „Wir warten seit Monaten händeringend auf eine Gesprächsmöglichkeit!“.

Dieses Hickhack wird auf dem Rücken kranker Menschen getanzt, die sich gerade fragen, ob sie Weihnachten noch erleben werden und wenn ja, in welchem gesundheitlichen Zustand. Inzwischen vergehen Monate. Wer kann unsere Notlage erfassen? Menschen mit einem Herzen aus Stein jedenfalls nicht.

Herz und Menschlichkeit

Ich glaube ja immer noch an das Gute in jedem Menschen und hoffe, in der momentanen Situation verwandelt er sich nicht zum Irrglauben, der mich oder andere frühzeitig das Leben kostet.

Wir möchten wieder optimistisch in die Zukunft sehen können. Möglich wird das, wenn wir uns mit unseren Präparaten versorgen können und es uns gut geht. Deshalb erneut meine Bitte, die inzwischen zum Mantra geworden ist:

Bitte kommen Sie zu Gesprächen zusammen! Konstruktiv. Auf Augenhöhe. Von Angesicht zu Angesicht mit ALLEN Beteiligten. Prüfen Sie ALLE FAKTEN. Sachlich. Lösungsorientiert.
Öffnen Sie Ihre Herzen und lassen Sie Menschlichkeit hinein. Bitte.

Danke.

Petra Carlile