Wieder alles normal, is doch klar!

Wieder alles normal, is doch klar!

3. Juli 2022 Aus Von Petra Carlile

Die Masken fallen, die Flieger fliegen, die Partys steigen! „Es ist wieder so wie vorher. Die letzten zwei Jahre holen wir so was von nach!“, höre ich viele jubeln.

Ich bin keine gebürtige Schwarzmalerin, im Gegenteil. Doch bekamen wir in den letzten zwei, drei Jahren eine Menge zu schlucken, an dem ich immer noch kaue. Deshalb bin ich nicht bereit für Jubelei.

K wie Klima oder Krieg, und V wie Virus

Junge Menschen legten den Finger in die Wunde des akut erkrankten Klimas und ohrfeigten mit den Bildern der Realität, vor der es nicht möglich ist, sich wegzuducken. Ein fieses, unbekanntes Virus betrat die Bühne und lähmte sein Weltpublikum. Und zu guter Letzt hob eine unterschätzte Führungsfigur die Normalität komplett aus den Angeln und zettelte ums Eck, mitten in Europa, einen brutalen Krieg an, der nach wie vor tobt.

Den Schalter umlegen

Psychologisch lässt sich erklären, wieso wir nach endlosen Schreckensmeldungen wieder zurückkehren in unsere gewohnte Welt. Waren wir vor drei Monaten entsetzt, ist der Ukraine-Krieg heute sogar medial auf gleicher Priorität wie der Wetterbericht. Für einen begrenzten Zeitraum ging der Pflegenotstand medial viral, der uns maßlos auf die Palme brachte. Heute macht der Personalmangel an deutschen Flughäfen viele wütend, weil ihnen das den Start in den Palmen-Urlaub versaut. Der Pflegenotstand in den Kliniken ist nach wie vor brisant. Kriege töten täglich Menschen auf brutale Weise. Die Wetterkapriolen schreien immer eindringlicher, dass wir uns schon lange klimatisch im Dilemma befinden. Doch wichtiger scheint jetzt: „Wie lange dauert das am Check-In-Schalter? Ich will in die Ferien, zefix!“

Keine Miesepetra

Bevor sich ein falsches Bild ergibt: Meine Lachfalten sind tiefer als meine Frustmundwinkel. Keinesfalls bin ich süchtig nach Schreckensmeldungen und ewigen Klageliedern, sobald ich morgens aufstehe. In Dauerschleife würden sie mich so fertig machen, dass ich gar nicht mehr durch den Alltag fände. Ja, das Leben geht weiter und ein gewisses Maß an Optimismus ist überlebenswichtig für uns alle. Doch bewusst in den Ignore-Modus zu schalten, bekomme ich nicht auf die Reihe.

Applaus für das, was möglich ist

Zum Beispiel freue ich mich riesig für die Kunstschaffenden, dass diese endlich agieren und auftreten dürfen, und ihr Können uns erreicht. Statt vor hupenden Autos blind zu performen oder tatenlos den Hartz IV-Antrag auszufüllen. Frage mich allerdings, wieso Veranstaltungen nicht mit Masken vor den Gesichtern besucht werden. Nicht, weil von der Politik verpflichtend geregelt, sondern vernunftgesteuert durch Verantwortungsbewusstsein für sich, die Mitfeiernden und jene, mit denen man sich hinterher wieder trifft.

Jungen Menschen verbunden, die ihre Berufung finden und leben, juble ich jedem Start-Up zu, das Sinnstiftendes, Klimarettendes, Menschenwürdiges hervorbringt. Gleichzeitig macht es mich wütend, wenn ich sehe, wie viele große Konzerne nach wie vor an ihren umweltzerstörerischen, auf einmaligen Konsum getrimmten Gütern festhalten und deren Kunden diese oft fragwürdigen Güter weiterhin gedankenlos konsumieren. Die Fakten bestätigen doch, wie die Welt bereits bröselt und die altmodische, egoistische Profitgier uns mit Anlauf nicht nur in die Scheiße reitet, sondern zum Untergang führt, wenn wir alles so belassen, wie es ist.

Normal ,wie früher, ist Geschichte

Nein, es wird nie wieder so normal wie vor der Pandemie, wie vor dem Ukraine-Krieg, wie vor dem Klimawandel! Es wird Zeit, dass wir uns ändern, Neues und hoffentlich menschlich Gutes schaffen, das dann zur neuen Normalität wird. Ja, sich zu verändern, löst oftmals Ängste aus und bedeutet Verzicht an alt Gewohntem. Ich kann davon ein Liedchen zwitschern. Andererseits sind und bleiben die Chanchen, die entstehen, erwartungsvoll aufregend.

Deshalb singe ich nicht im Chor mit den Scheuklappentragenden, alles wäre wieder wie früher. Meine inzwischen jahrzehntelange Lebenserfahrung lässt mich besser erkennen, wann ich verkackeiert werde durch haltlose Werbeversprechen und politische Unwahrheiten. Ich fühle mich eher kämpferisch motiviert, im mir möglichen Rahmen ein paar Stellschrauben zu drehen. Und ich gestehe, dahinter steht ein großer Eimer voll Eigennutz. Wie die meisten wünsche ich mir, glücklich und gesund in Frieden zu leben. Deshalb: Tatsachen ignorieren und bewusst unwissend bleiben, ist der falsche Weg. Was ich vermag zu ändern, ändere ich. Damit bin ich nicht allein. Und das lässt mich ein klein wenig jubeln.

Eure Petra