Heldentod

Heldentod

7. März 2022 Aus Von Petra Carlile

Vorwort

Jahrelang zögerte ich, mich ihnen zu widmen. Aus dem Nachlass früherer Generationen meiner Familie bin ich im Besitz von Briefen, geschrieben in Europas dunkelsten Zeiten, dem Zweiten Weltkrieg. Einer der Briefstapel ist der einzige Beweis für Pauls Existenz. Die letzte Erinnerung, die blieb. Vom jüngsten Sohn meiner Urgroßmutter Berta und liebsten Bruder meiner Oma Bertchen.
Nach seinem Tod bezeichneten Leute ihn als Helden. Wie über fünf Millionen weitere deutsche Soldaten, die für eine irre Galionsfigur und deren mächtige Drahtzieher in den Tod gingen. Den sogenannten Heldentod.

Jetzt, am 07.03.2022, herrscht seit zwölf Tagen Krieg in meiner unmittelbaren Nähe. Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Schon wieder muss ein Volk sich wehren. Erneut stehen sich Kämpfende gegenüber, sollen sich hassen, werden sterben. Abermals bedeutet dieser Krieg großes Leid für unschuldige Männer, Frauen und Kinder.

Der bewusste Stapel alter Briefe liegt mitten auf meinem Schreibtisch. Ich erinnere mich nicht, dass ich ihn dort deponierte. Schau mich an!, scheint er zu sagen. So nehme ich ihn sofort zur Hand und nicht, wenn in ferner Zukunft Zeit dazu ist. Ich muss es tun, weil ich nicht aufhören kann, an den Verfasser zu denken. Seine Worte versuche ich, behutsam in eine Geschichte zu betten.

Das von Paul Erlebte wiederholt sich. Er starb dort, wo der aktuelle Krieg sich jetzt erbarmungslos durch einst friedvolles Land eines friedvollen Volkes frisst.

Herzliche Grüße

„Im Osten, am 31.7.43
Liebes Bertchen, lieber Werner!
Euer liebes Päckchen vom 12.7. habe ich gestern erhalten. Habt auch für alles recht herzlichen Dank. …
… Ich glaube, es ist ziemlich heiß in Berlin !!!!?! Wenn alles planmäßig weiter läuft und nichts dazwischen kommt, dann weiß ich ungefähr schon, wann ich auf Urlaub fahren kann. Meinen Geburtstag werde ich dann wohl zu Hause feiern. Also drückt beide Daumen, dass es auch so klappt, wie ich es mir ausgemalt habe.
Mir geht es gesundheitlich auch immer noch gut. Warum auch nicht. Der Dienst geht auch vorüber. Es sind nun schon 4 Wochen vergangen, die restliche Zeit geht auch noch vorbei. Den Nusskuchen habe ich noch nicht erhalten. Na ich hoffe ja, dass der auch noch hier eintrudelt. … Sonst ist so weit alles noch beim Alten. … Mutti scheint auch eine richtige Reisetante geworden zu sein. Aber solange sie nicht zu Hause ist, spart sie ja wieder Licht und Feuerung. Wenn das Rumreisen auch immer noch was einbringt, so kann es ja nie verkehrt sein. Doch für heute soll es genug sein. Nun lasst es Euch weiterhin recht gut gehen und seid beide recht herzlich gegrüßt von Eurem Paul.“

***

„Im Osten, am 8.8.43
Liebes Bertchen, lieber Werner!
Heute sollt Ihr nur schnell einen kurzen Gruß bekommen. Wer weiß, ob ich in den nächsten Tagen zum Schreiben komme. Der Nusskuchen ist leider immer noch nicht da. Wie geht es Euch sonst noch? Hoffentlich genau so gut wie mir. Demnächst schreibe ich mehr.
Vor einigen Tagen habe ich auch von Kurt wieder einmal Post erhalten. Nun seid für heute recht herzlich gegrüßt von Eurem Paul.“

***

„22.8.43 OU
Liebes Bertchen, lieber Werner,
gestern habe ich auch wieder mal etwas Post bekommen. Allerdings recht wenig. Für Eure „ILL“ habt recht vielen Dank. Doch leider warte ich immer noch auf den Kuchen. Hoffentlich kommt er bald. Mir läuft immer schon das Wasser im Munde zusammen. Wie geht es Euch sonst noch? … In verschiedenen Städten muss es ja wüst aussehen. Von mir kann ich auch immer das Beste noch schreiben. Nun seid für heute recht herzlich gegrüßt von Eurem Paul. Demnächst mehr.“

Für einen Nußkuchen nehme man…

½ lb Butter oder Margarine
¼ lb Zucker
Vanillezucker
4 Eier
½ lb ungeschälte, gemahlene Haselnüsse
Etwas weniger als ½ lb Mehl
1 TL Weinstein oder Backin
Rum oder Rumersatz
Puderzucker zum Bestäuben

Mein Blick streift über die vergilbten Seiten des alten Kochbuches. Dabei denke ich an all jene, die es vorher in den Händen hielten, Seite für Seite umblätterten, daraus kochten, versehentlich mal einen Kleckerfleck hinterließen oder bewusst ein Eselsohr in jene Seiten knifften, die favorisiert wurden.

Meine Mutter hat daraus genau so gebacken und gekocht, wie meine Großmutter. Auf der Innenseite steht mit Bleistift in altdeutscher Schrift der Name meiner Urgroßmutter, die mir persönlich nicht bekannt ist. Einst gehörte dieses Buch ihr.

Die Seite mit dem Nusskuchenrezept wurde häufiger erblättert. Ihre Ecken sind dünner als alle anderen und es gibt unzählige, mehlbestäubte Fingerabdrücke darauf. Auch ich bleibe stets genau auf dieser Seite kleben. Obwohl ich schon lange im Kopf habe, was zu diesem Nusskuchen gehört.

Ich vermische die Zutaten und fühle mich den Frauen meiner Familie innig verbunden. Schon nach den ersten Minuten im Backofen wabert leckerer, buttriger Duft nach Nüssen, vermischt mit einem dezenten Hauch von Rum, durch meine Küche.

Zeitreise

Wie wohl meine Urgroßmutter aussah, wenn sie diesen Kuchen buk? Von alten Fotos malt mir die Erinnerung ihr Bild. Strenger Dutt, eine blaue, recht verwaschene Latzschürze über hochgeschlossener Bluse und wadenlangem, dunklem Rock, resolute und aufrechte Haltung, stets begleitet von einem liebevollen Lächeln, das sie jedem schenkte, der ihr begegnete.

Sie hantierte in einer anderen Art Küche, welche den Hausfrauen reichlich Arbeit und ja, viel mehr Kraftaufwand abverlangte.

Plötzlich stehe ich mittendrin in Urgroßmutters Küche. Ich beobachte, wie sie ein paar Scheite Holz nachlegt, sich die Hände an der Schürze abwischt und, für einen Moment innehaltend, genüsslich genau den gleichen verführerischen Duft einatmet, der sich unsichtbar durch die geschlossene Ofenklappe schummelt. Kurz darauf besinnt sie sich und hantiert am Spülstein

Alles um mich herum ist weder bunt noch farblos, sondern in vielseitigen braun- und beige-Tönen nuanciert. Wie die Ansicht alter Fotos. Auch Berta ist in diese Farben gehüllt. „Wenn es heute man bloß keinen Fliegeralarm gibt“, murmelt sie, während sie geschwind alles Abgewaschene trocknet und in der Anrichte verräumt. Sie öffnet die Ofenklappe und begutachtet den Fortgang des Backwerks. „Na, eine Viertelstunde kann er gut und gerne noch.“, meint sie zu sich selbst und lässt den Ofen sein Werk tun. Oh ja, dieser Duft, der sich in der Küche breitmacht, ist genau wie meiner. Ich werde umarmt vom Aroma wärmender Geborgenheit mit einem Hauch von Rum. Es klingelt und Berta verlässt den Raum, in dem ich stehe. Nach wie vor unsichtbar für sie.

Keine Chance für Gerüchteküchen

„Frau Hallmeier, sarense mal, wann kommt denn das Paulchen auf Heimaturlaub?“, will eine Frauenstimme wissen. „Mein Heinrich und ich, wir wollen unsere Sau schlachten. Das wäre doch ideal, wenn der Junge da ist und was Gescheites zu essen bekommt. Und hammse gehört: von der Meiern der Junge is für immer zu Hause. Des ganze linke Been is wechjeschossen. Jede Nacht schreit der im Traum. Scheint, er hat wohl och den Verstand im Kampf verlorn. Da hat der sich für unseren Führer und unser Vaterland janz schön ins Zeuch jelecht.“

„Nein, hab ich nicht, Frau Friederich,“ Berta unterbricht den Redeschwall forsch. „Ich bete für Rudi Meiers Genesung. Hab noch ein paar Marken übrig, die bringe ich seiner Mutter morgen vorbei. Kann sie bestimmt brauchen. Meinen Paul erwarten wir im Oktober zu seinem Geburtstag. Ich habe gerade einen Kuchen für ihn im Ofen. Jener, den Bertchen ihm vor Wochen schickte, ist nicht angekommen. Wenn Sie mögen, richte ich Grüße von Ihnen aus. Jetzt muss ich aber zurück, nicht dass er mir zu dunkel wird…“

Freundlich und doch bestimmt verabschiedet Berta die Bekannte und beendet ausgedehntes Gerede, bevor es beginnt. Tratschen ist ihr zuwider. Sich am Leid anderer zu ergötzen, fühlt sich für sie respektlos an.
Inzwischen ist der Kuchen fertig. Die Kastenform mit der warmen, duftenden Köstlichkeit kühlt auf der Anrichte ab. Berta setzt sich an den Küchentisch, nimmt Papier und Stift und beginnt einen Brief.

Die Last einer Mutter

„Magdeburg, 31.8.43
Mein liebes Paulchen, gerade habe ich den Nusskuchen für Dich fertig, von dem ich hoffe, dass wenigstens dieser Dich erreicht. Ich hoffe so sehr, dass es Dir gut geht und bete für Dich. Bitte schreib mir, wenn Du etwas brauchst. Dein Schwager Werner konnte für Dich wieder ein paar Zeitschriften ergattern, sie liegen bei. Deiner Schwester Bertchen geht es gut. Der Arzt ist mit ihr zufrieden. Wenn Du auf Heimaturlaub kommst, bist Du, so Gott will, vielleicht schon Onkel. Ich war letzte Woche bei Tante Lehnchen in Stendal und kürzlich auch in Genthin, um Bertchens Schwägerin etwas vorbei zu bringen. Sie schenkte mir die ersten Äpfel aus dem Garten. …“

Berta erwähnt nicht, warum sie so oft verreist und ihre in ländlicher Gegend ansässigen Verwandten aufsucht. Dass sich Fliegeralarme häufen, verschweigt sie und hofft, ihr Junge macht sich keine Sorgen um sie. Er soll alle Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren und auf sich aufpassen.

Die Gardinen, die vor dem geöffneten Fenster durch den warmen Sommerwind wellenartig tänzeln, streifen meinen Arm. Ich drehe mich zu ihnen und erspähe durch einen Spalt die darunter liegende Straße, über deren Kopfsteinpflaster ein paar Autos holpern und eine Straßenbahn klingelnd ihre freie Schienenbahn anmahnt. Weiter hinten erkenne ich die Lücken in einst aneinander gereihten Häuserdächern.

Ich wende mich um und möchte Berta weiter zusehen. Doch befinde ich mich nicht mehr in der bräunlich-beigen Atmosphäre alter Fotos. Ich sehe Bertas Küche wie durch einen blutig roten Filter. Ein unangenehm kalter Luftzug lässt mich frösteln. Der Ofen ist aus. Kein wohlig duftender, frischer Nusskuchen macht Appetit. Der Krieg hat seinen aufdringlichen Schreckensgestank nach brennenden Häusern, beißendem Schießpulver, nach Angst und Verwesung in ihre kleine Welt geblasen. Meine Urgroßmutter sitzt schluchzend am Tisch, in der einen Hand knetet sie ihr nassgeweintes Taschentuch, mit der anderen streicheln zittrige Finger über ein Foto. Ich kenne es. Paulchen. Daneben liegt ein Brief. Ich will nicht, doch meine Neugier zerrt mich zu ihr an den Tisch und ich stelle mich hinter sie.

„Feldlazarett FP.Nr. 26924, Oberarzt Dr. Müller
U.O. 7.9.43.
Sehr geehrte Frau Hallmeier,
im Auftrag des Chefarztes habe ich die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn, der Obergefreite Paul Hallmeier, geb. am 18.10.1919, den Heldentod gestorben ist. Er wurde am 4.9. schwer verwundet durch einen Bauchschuss bei uns eingeliefert. Nach der alsbald vorgenommenen Operation….. alles, was möglich war, um das Leben Ihres Sohnes zu erhalten. …. Ihr Sohn lebte in der Hoffnung auf seine Wiedergenesung, bis es gegen Ende zu zunehmender Kreislaufschwäche und Bewusstseinseintrübung kam. So ist er am Morgen des gestrigen Tages, am 6.9. um 4.30 ruhig und schmerzlos hinübergeschlafen. …. wird auf dem Kriegerfriedhof in Poltawa unter militärischen Ehren … beigesetzt.“

Offizielle Nachricht von Pauls Tod

Bertas vormals stattliche, mütterliche Erscheinung wirkt schmal und zerbrechlich. Als könne sie weggeweht werden wie papierdünnes Laub im Herbstwind.
Das Leid der mir unbekannten Urgroßmutter geht mir so nah. Ich möchte sie umarmen, über ihr Haar streicheln. Würde sie mich wahrnehmen, was könnte ich ihr sagen? Nichts. Es gibt keine Worte, die für solche Schicksale Trost spenden.

Zusammen mit dem Eisernen Kreuz legt Berta die Todesnachricht zur Seite und nimmt einen Stapel Briefe in die Hand. Langsam öffnet sie den Faden, der ihn zusammenhält. Es ist Pauls gesammelte Feldpost. Alles, was ihr blieb von ihrem Sohn. Kein letzter Abschied am Sarg, kein Grab, das sie besuchen kann. Nur die auf Papier geformten Worte eines nicht mal Vierundzwanzigjährigen, dessen Leben endete, bevor es sich entfaltet hat.

Ein letztes Wort

Den letzten Brief ihres Sohnes erhielt Berta am 17.9, als er schon längst gefallen war.

„26.8.43
Liebes Muttchen,
da ich einmal beim Schreiben bin, so sollst Du auch gleich noch ein paar Zeilen haben. Etwas Besonderes hat sich inzwischen hier auch nicht ereignet. Es geht tagtäglich seinen alten gewohnten Gang. Ich wundere mich bloß, dass ich so wenig Post erhalte… Du brauchst deshalb aber nicht zu denken, dass es mir darum schlecht geht. Mir geht es sogar ganz gut. Ich lasse den Kopf deswegen noch lange nicht hängen. Wenn es Dir man auch noch so gut geht, dann ist schon alles in Ordnung. Wir wollen auch nur hoffen und wünschen, dass der … nicht mehr so viel zerstört. Es wäre nämlich bestimmt nicht angenehm, wenn man mal auf Urlaub kommt und findet bloß noch einen Trümmerhaufen anstatt eines ordentlichen Heimes. Aber man darf nicht den Mut verlieren. Es wird schon alles zum guten Ende führen. Nun sei für heute recht herzlich gegrüßt von Deinem Sohn.“

Bekannte und Verwandte nahmen Anteil. Von den Beileidsbekundungen sind einige erhalten. Nach dem zweiten Brief ahne ich, wie der dritte eingeleitet wird.

„Sehr geehrte, liebe Frau Hallmeier, wie tief erschüttert hat mich die Nachricht von dem Heldentod ihres Sohnes. So hat er sich doch nun hinopfern müssen für uns alle und unseres Volkes Zukunft…“

„Meine liebe Frau Hallmeier und Bertchen! Die Nachricht vom Heldentode Ihres lieben Sohnes hat mich sehr tief erschüttert, so hat auch der unerbittliche Krieg eine tiefe Wunde geschlagen. …“

„Liebe Berta, den tiefsten schmerzlichsten Eindruck hat die Nachricht von dem Heldentod Deines Sohnes gemacht. Mein Mann hat oft gesagt, wenn nur Frau Hallmeier ihre Jungs gut durchkommen. …“

„Liebe Tante Berta und liebes Bertchen, vor ein paar Tagen kam ich wieder einmal auf Urlaub und erfahre von Mutter, dass Paulchen gefallen ist. Zu dem Heldentod Eures Lieben möchte ich Euch mein Beileid aussprechen. …“

Was bleibt

Der Timer piepst mich zurück in meine Gegenwart. Der Nusskuchen ist fertig. Ich betrachte ihn, der heiß in der Form vor sich hin dampft und versucht, mich mit seinem Duft zu verführen. Gut gelungen, erscheint er mir dennoch wie ein lebloser Ziegelstein und Wut treibt mir die Tränen in die Augen. Wieso bist Du bei Paul nie angekommen? Das Stückchen Geborgenheit hätte ihm gutgetan, bevor er seinen sinnlosen Tod starb!

Nicht einen Krümel mag ich von ihm probieren. Als wäre dieser Kuchen schuld an allem Unheil. An jenem von damals und am heutigen, neuen Krieg. Auf der Erde eines Landes, in das einst mein Großonkel einmarschierte. Angeblich, um es zu befreien. Für wenige Machtgierige, die Irrglauben in die Köpfe vieler streuten. Auch in seinen. Ein Land, auf dessen Boden er den sogenannten Heldentod starb. In dessen Erde er verscharrt wurde. Ein Land, in dem schon wieder erbitterte Kämpfe toben und einige von sich glauben, heldenhafte Gründe für den Überfall zu haben. All jene mit sich reißend, die sich verteidigen, obwohl sie gar nicht kämpfen wollen.

Solch sogenannte Helden braucht die Welt nicht mehr. Weder jene, die siegreich triumphieren noch die, die zu betrauern sind. Egal, auf welcher Seite sie standen.

Petra Carlile