Oma orgelt und Opa pfeift drauf

Oma orgelt und Opa pfeift drauf

12. Dezember 2021 Aus Von Petra Carlile

Die ersten Schneeflocken und der näher rückende 24. Dezember sagen eindeutig: Weihnachten ist im Anmarsch. Ich versuche, mich einzustimmen. Und denke an früher.

Schönste Erinnerung

Ich erinnere mich an Heiligabend, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Mein Großvater und ich sitzen in einer ausnahmsweise voll besetzten Kirche. Es ist kalt, eine Heizung existiert nicht. Alle Besucher kommen, wie zu einem Picknick, mit Kissen und Wolldecken bepackt.

Unser Atem stößt Wattewölkchen aus unseren Nasen und wir kuscheln uns aneinander. Die Weihnachtsgeschichte ist uns bekannt, doch lauschen wir ihr immer wieder erwartungsvoll.

Gemeinsam gesungene Weihnachtslieder sorgen für festliche Stimmung. Klangvoll in Szene gesetzt von meiner Großmutter, die wir nicht sehen, weil sie hinter und über uns eine alte Orgel bespielt. Garantiert sitzt sie jetzt hochkonzentriert auf der harten Holzbank und die Brille ist ihr auf die Nasenspitze gerutscht. In der Woche vor Heiligabend hat sie sich mit dem Chor getroffen und geprobt. Sie sind ein eingespieltes Team dort oben auf der Empore: die jubilierend Singenden und die orgelnde Omi.

Nie die richtige Tonlage

Wie alle anderen werden wir von der Musik erfasst und möchten lautstark mitsingen. Der Opa wippt mit den Füßen, wir stimmen ein und brechen sofort ab. „Jott ach Jott, is det hoch! Meine Tonlage ist nie dabei“, flüstert er. Bestätigend rolle ich die Augen. Wir hatten die Oma beschworen, ein paar Töne tiefer anzusetzen. Doch sie folgt den Wünschen des Chores, der jetzt abhebt. Bevor ich Kommet, ihr Hirten… kreische, singe ich lieber Playback. Opa ist seine eigene Band. Mit den Füßen stampft er den Takt und statt zu singen, pfeift er. Geschlossen dreht sich die Bank vor uns um. Geschlossen grinsen sie sich eins, zwinkern uns zu und stimmen mit ihren Stiefeln ein in das Fußstampfen meines Großvaters.

Stille Sterne

Mit dem Schlusslied Stille Nacht ist der Gottesdienst beendet. Die letzte Strophe ist gesungen, leiser orgelt die Oma die stimmungsvolle Stille Nacht weiter durchs Kirchenschiff und die offenen Türen hinaus. Die vormals Banksitzenden bewegen sich zur Mitte und treten in gleichsam wankenden Schritten beseelt durch die große Tür. Opa und ich gelangen nach draußen. Wir vergessen für einen Moment unsere kalten Füße, weil uns genau hier Weihnachtsstimmung umfängt. Es ist eine klare Nacht, die Luft ist frisch und duftet nach Holz und Tanne. Einander eingehakt schauen wir in den Himmel und bestaunen die funkelnden Sterne. Glück kribbelt in meinem Bauch. Wir sagen kein Wort, warten, selbst total beseelt vom Moment, auf unsere Orgel-Omi. Die mehr friert als wir. Denn mit dem Pastor hat sie bereits ein Gemeinde-Hopping hinter sich. Das hier ist der dritte und letzte Gig in Eiseskälte für die beiden.

Rausschmeißer

Trotz des Heiligabends gruppieren sich im Anschluss einige, die dringende Neuigkeiten austauschen müssen. Sie stehen im Hauptgang, lehnen sich an die Bankreihen und diskutieren. Normalerweise hält unsere Omi gern mal einen Klönschnack. Nicht heute. Mensch Leute, die Omi hat Eisbeene! Eben lassen die Orgelpfeifen die letzten zarten Töne der Stillen Nacht ausklingen. Kurz darauf donnern lautstark die Noten von Oh Du fröhliche gegen die Mauern und hinterlassen bei den Schnatternden eine waagerechte Fönfrisur. „Au weia, nischt wie raus. Jetz wird se nachdrücklich!“ Draußen kichert der Opa: „Det is Omis Rausschmeißer …“

Ich erinnere mich nicht mehr, welche Geschenke an jenem Heiligabend unterm Weihnachtsbaum warteten. Diesen Gottesdienst mit meinen Großeltern vergesse ich nie.

Frohe Weihnachten!

Eure Petra