Alles ist möglich!
Tja Leute, was soll ich sagen: ICH WAR AUF EINEM BERG! O.k., für den normalen Alpenländer ist jener Berg etwas, um morgens vor dem Büro mal kurz joggend den 380 Meter Höhenunterschied hoch und wieder hinunter zu fetzen. Zum Kreislauf in Gang bringen, um wach zu werden. Bevor der erste Espresso in die Tasse läuft und das Notebook langsam hochlädt.
Weg mit den Fesseln
Für mich bedeuten diese erklommenen Meter auf einen 1.096 m hohen Aussichtspunkt viel mehr als all jenen, die mal eben in 30-40 Minuten rauf huschen. Dieses Erlebnis ist, als hätte ein alter, betagter Wärter seinen großen, rostigen Schlüssel ins Schloss meiner Gefängnistür gesteckt, diesen 2x geräuschvoll umgedreht und die quietschende Gittertür frei gegeben, aus der ich noch recht zögerlich hinaus trat. In meine zaghafte FREIHEIT.
Von Einer, die an mich glaubt und liebevoll drängt
Noch Anfang April beschrieb ich, wie frustrierend es in mir kämpfte. Denn ein Teil in mir explodierte fast vor Bewegungsdrang, während der Körper mit seinen Symptomen parallel gewaltig die Bremsen rein haute.
Genau in diese Stimmung hinein vereinbarte meine Trainerin und Coachin Silke Zukunft mit mir einen Abstands-Live-Termin, um meine Nordic-Walking-Bemühungen zu prüfen. „Irgendwas ist da, was nichts mit Deinem gesundheitlichen Thema zu tun hat“, meinte sie.
‚Nun ja, vielleicht gibt es winzige Stellschrauben an meiner Technik und ein paar Tipps für sehr vorsichtige, geduldige Steigerung meiner Trainingseinheiten.‘, dachte ich und ließ mich darauf ein.
Das Kind beim Namen genannt: mentale Blockade
Oh ja, es gab einige Korrekturen an meiner Technik! Denn Nordic Walking ist ein bisschen wie Ski-Langlauf und bedeutet u.a., den Oberkörper viel weiter nach vorne zu beugen als bei einem normalen Spaziergang. Und so walkte ich auf nordische Art durch den Landschaftspark Ottobrunn und stemmte kraftvoll meine Stöcke in den Untergrund, während Silke neben mir her lief und immer wieder korrigierte. „Guck mal da unten, die Gänseblümchen, die wollen alle von Dir gepflückt werden!“. Dieser unerwartete Satz brachte mich zunächst aus dem Konzept. Vergessen kann ich den nie. Nebenbei befragten wir stets meinen Puls-Oximeter, den Silke „el Chefe“ taufte. An meiner 20-Minuten-mehr-ging-bisher-nicht-Marke waren die Messungen im absoluten Normalbereich und Silke nannte die fiese Bremse in mir beim Namen: Angstblockade.
So wies sie weiter auf den Weg, der noch vor uns lag. Klar ließ Silke mir auch die Wahl, wieder zurückzugehen. Doch rief der Trotzi in mir ‚ Waaas? Angstblockade? Kann gar nicht sein!‘ Ich nickte in Richtung „halbe Fahrt voraus“. Das Ergebnis nach unserer Trainingseinheit: 75 Minuten Dauer, 5 km Länge, Sättigung bei 98%, Puls bei 120 – 133, Erholungsfähigkeit gut–nach 3 Minuten 108er Puls.
Glauben konnte ich das zunächst nicht. Doch ganz klein und wohlig erwärmte mich eins: aufflammender Hoffnungsschimmer. Und fröhlich begrüßte ich am nächsten Tag einen alten Freund, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr getroffen hatte: einen gewaltigen Muskelkater.
Der Berg ruft
Trotzdem bemerkte ich auch Zweifel, als Silke eine weitere Schippe in meine Miniatur-Hoffnungs-Flammen warf: „Wenn Du das schaffst, hömma, dann geht auch Berg.“ Ah ja. Zwei Tage vor unserem Bergtermin beobachtete ich die Wettervorhersage und die sah nicht gut aus. „Sollen wir verschieben? Das Wetter wird regnerisch.“, versuchte ich mich vorher noch irgendwie heraus zu lavieren. „Ach was, das wird prima! Die ersten Stunden am Morgen soll es trocken bleiben. Das fängt erst an zu regnen, wenn wir schon wieder unten sind.“ Na gut. Wenn Silke das sagte…
Regen, Wind und Wolkenspektakel
Es hatte was von Wandertagsfeeling, als ich zum ersten Mal seit langem an jenem Freitag Anfang Mai morgens um 5 Uhr meinen Wanderrucksack packte. Inklusive Thermoskanne mit heißem Tee und Wechselkleidung. Verheißungsvoll zeigte sich mir eine scharf gezeichnete Bergkette vor dunklem, geladenem Wolkenhintergrund, als ich auf der A8 Richtung Bad Tölz fuhr.
Wir trafen uns kurz vor 8:00 Uhr auf einem leer gefegten Parkplatz direkt beim Ausgangspunkt. Ins Gesicht fegte uns kalter Wind und Regen klopfte auf unsere Jacken und Kapuzen, als jede von uns ihr Parkticket zog.
Doch hier waren wir und jetzt gab es kein Zurück mehr. Das war mir vollkommen klar. So begann der stetige Weg aufwärts. Silke unterhielt uns derweil. Ich war eher einsilbig und konzentrierte mich voll auf den Atem. Die Luft um uns herum war unglaublich frisch und duftete nach Erde und Wald. Kein Wunder, war sie doch vorher bereits sauber gespült worden vom Regen, der immer wieder auf unserem Weg nach oben einen Waschgang einlegte.
Telepathische Pulsfrequenzansage
In regelmäßigen Abständen ordnete Silke Pausen an, um „el Chefe“ zu befragen, ob alles noch paletti mit mir, meinem Puls und meiner Atmung ist. Und während ich auf dessen Messergebnisse und die meiner Pulsuhr am Handgelenk wartete, warf ich immer wieder den Blick in die Weite, die sich hinter uns bereits auftat. Majestätische Berge boten mir ein Wechselspiel an Farben dar, wenn der Wind mal Wolken über sie trieb und in dunkle Kleider hüllte oder für magische Momente den blauen Himmel zum Vorschein brachte und sie mich anstrahlten.
Und noch vor der Ablesung meiner Messinstrumente meinte Silke: „Hm, würde sagen, 138er Puls, 98er Oxi…“ Wenig später ließ „el Chefe“ seine Anzeige blinken: 138erPuls und 98er Sauerstoffsättigung. Im gleichen Moment vibrierte mir die Anzeige meiner Armbanduhr den gleichen Pulswert zu. Trotzdem ich bereits nach der Hälfte des Weges fix und foxi war, hatte ich plötzlich unglaubliches Vertrauen. Ich wusste, dass ich es nach oben schaffe. Die Sicherheit, dass ich meine herausragende Sportwissenschafts-Jokerin dabei hatte, war genau so hilfreich. Jene sagte mir bei allen weiteren Kontrollmessungen stets genau die Pulswerte voraus, die meine Instrumente wenig später bestätigten. Silke kann das einfach so – nur durch Anschauen und meiner Atmung folgend.
Gipfel: erst einmal nichts und dann plötzlich alles
Nach 1,5 Stunden waren wir oben angekommen. Eine leere Bank erwartete uns, wie für uns bestellt. Nur wenige Wanderer waren unterwegs an uns vorbei gezogen und schon längst weiter, über alle Berge. Hier oben wehte der Wind weiterhin kräftig um unsere Nasen. Ich freute mich auf meinen heißen Tee und prostete Silke auf Abstand meinen Becher entgegen, die mir mit ihrem und ihrem Heißgetränk antwortete. „Prost Silke, und Danke!“ Etwas zweifelnd schaute sie mich von der Seite an. Irgendwie hatte sie eine andere Reaktion von mir erwartet. Und diese zeigte sich erst eine ganze Weile später. Als ich lange meinen Blick in die Weite schickte. Plötzlich explodierte in mir alles: unbändige Freude, schmerzende Verzweiflung, kochende Wut und heilsame Zuversicht. Obwohl ich total groggy war, begann ich zu tanzen und vor Freude zu springen. Kurz darauf schickte mir meine Angstblockade ihre Bilder in Sekundenbruchteilen wie in einer Hochgeschwindigkeits-Diashow vor Augen: Bilder aus der Intensivstation, die schrecklichen verwirrenden Narkoseträume, das resignierte Erkennen meiner Hilflosigkeit, als andere mich bewegten, weil ich es nicht konnte. Eben noch lachend, schüttelten mich jetzt Tränen durch, die kurz drauf mit einem lauten Urschrei ins Tal versiegten.
Ich hatte geglaubt, dass ich diese Erlebnisse schon längst verarbeitet hatte und sachlich anerkannt. Immerhin war ich seit einiger Zeit wieder halbwegs in meinem Alltag zurück.
Nix Yeti – bloß ICH. Und ICH bin wieder da.
Wer auch immer an jenem Tag drunten im Dorf diesen Schrei hörte: Nein Leute, nach wie vor wohnt kein Yeti bei Euch hinter der Scheune. Diesen Wutschrei raus zu lassen und alles in die Weite zu senden, was mich bisher festhielt, war nur möglich, weil ich eine wunderbare Freundin bei mir hatte, der ich über alle Maßen vertraute. Die herausragende sportwissenschaftliche Kompetenz bietet, gepaart mit der Fähigkeit, mentale Zustände zu erkennen und diesen mit geballter Silke-Power und einem unglaublich großen Herzen zu begegnen. DANKE, liebe Silke Zukunft!
Es wird weiter aufwärts gehen. Ob auf weiteren Bergen der kleinen Kategorie, auf so mancher Walking-Strecke oder im normalen Leben, wenn ich meine Vorhaben in Angriff nehme. Weiter in meinem Tempo und Rücksicht nehmend auf meine, sagen wir mal, besonderen Voraussetzungen.
Wann immer Euch Zweifel plagen, weil ein Wunsch sich nicht umsetzen lässt oder Ihr vor Hürden steht, die unüberwindlich scheinen, hoffe ich sehr, dass meine jetzt doch etwas länger geratene Schilderung anspornt, bevor Ihr für immer aufgebt und Euch von Euren Blockaden vereinnahmen lasst, die Euch womöglich bis ins hohe Alter fest im Griff behalten wollen.
Aufgeben ist keine Option, denn alles ist möglich! Eure Petra