Mein zweiter Geburtstag am 08.04.2019 oder: Gendefekt – ein langer Weg zur Erkenntnis
Laut meiner Geburtsurkunde wurde ich am 21.12.1971 geboren. So. Nun ist es raus, mein wahres Alter. Doch seit diesem Jahre feiere ich zweimal im Jahr Geburtstag. Zusätzlich am 08.04. Der Tag, an dem ich aus dem künstlichen Koma zurück geholt wurde.Dass ich diesen Tag zum Feiertag mache, habe ich erst Wochen später festgelegt. Denn am 08.04. selbst begriff ich die Tragweite dieses Tages nicht.
Ich glaub, ich bin im Flieger
Noch zugedröhnt mit diversen Medikamenten, blickte ich rechts von mir auf eine gelbe Trennwand. Aus Leichtmetall. Ich glaubte, ich befinde mich in einem Flieger. Auf einem Langstreckenflug. Immerhin lag ich im Bett. ‚Wohin fliegen wir eigentlich?‘ Und ich hatte einen Höllendurst. Hoffentlich kommt bald die Stewardess und bringt mir was zu trinken. Wahrscheinlich lag ich direkt hinter dem Cockpit. Denn dauernd piepste und hupte es von den Steuerinstrumenten. Noch nie befand ich mich auf einem Langstrecken- oder Nachtflug. Doch war das für mich die einzig logische Erklärung.
Sie kennen mich nicht, doch ich kenne Sie
Bis die vermeintlichen Stewardessen an mein Bett traten. Superfreundlich. Doch nicht in blauem Kostüm mit einer adretten Kappe auf dem Kopf, sondern in weiß gekleidet. „Hallo Frau Carlile, ich bin Schwester Babette. Sie kennen mich nicht, doch ich kenne Sie.“ Aha, das kann ja jeder sagen! Als ihre Kollegin sich meinem Kopfende nähert und an durchsichtigen, dünnen Schläuchen hantiert, die irgendwo in meinem Hals enden, ziehe ich die Sache mit dem Langstreckenflug stark in Zweifel. Einen kurzen Augenblick denke ich noch, dass man vielleicht bei manchen Langstreckenflügen schlafen gelegt wird, damit man die lange Reisezeit wohlbehalten übersteht. So Alien-Film-mäßig. Doch kann ich mich nicht erinnern, zum Mond oder Mars gewollt zu haben. Und wenn, dann doch wohl nicht ohne meinen Mann? Die Kollegin von Sr. Babette legte ihre Hand auf meine Schulter und meinte, wie aufs Stichwort: „Sie haben aber einen tollen Mann!“ und eine heisere, quietschende Stimme antwortet: „Ja, weiß ich. Ist aber meiner.“ Oh verdammt – diese Stimme gehörte mir! Und es tat weh, zu sprechen. Ich war definitiv auf keinem Langstreckenflug. „… er kommt jeden Tag und bleibt für mehrere Stunden. Hat mit angefasst, wenn wir Sie gewaschen haben oder umlagern wollten. Echt ein toller Mann!“. Ich wollte mich aufsetzen. Wenn ich schon mit einer fremden Frau über meinen Mann reden soll, dann möchte ich ihr in die Augen sehen. Doch ich schaffte es nicht. Ich war schon völlig kaputt, wenn ich nur den Arm heben wollte. Es ist was Schlimmes passiert. Das wurde mir langsam klar. Ich war irgendwie – krank. Und hatte keine Ahnung, welcher Wochentag war oder wie viel Uhr.
Die Reise zum Mond wäre mir lieber
Auch wenn ich nie zum Mond wollte – in dem Moment wünschte ich mir, der irre Traum vom Langstreckenflug wäre die Wahrheit. Blickte ich nach links, sah ich aus einem großen Fenster. Auf einen großen Baum. Mit kahlen, knorrigen, weit verzweigten Ästen. Und anderen Gebäudeteilen dahinter. Nein. Definitiv nicht der Mond. Glücklicherweise schlief ich ein. Und als ich das nächste Mal aufwachte, war mein Mann neben mir. Meine Verbindung zur Realität. Mein Ruhepohl. Auf meine Frage, ob er mich abholt und wir jetzt nach Hause können, beschrieb er mir kopfschüttelnd die Realität, in der wir uns tatsächlich befanden. Auch wenn ich seine Worte akustisch wahrnahm, setzten sie sich erst einige Tage später. Ich war krank. Lag schon für einige Zeit zu Hause im Bett. Es begann mit einer simplen Erkältung, oder? Ja, stimmt, ich hatte hohes Fieber und furchtbaren Husten. Und irgendwann war es so schlimm, dass mich mein Mann ins Krankenhaus einliefern lies. Wo man zunächst versuchte, mich „nur“ intensiv zu betreuen. Doch weil mir das selbsttätige Atmen sehr schwer fiel, entschieden sich die Ärzte zur Beatmung. Was künstliches Koma bedeutete. Ich hatte eine schwere Lungenentzündung mit Sepsis. Erinnerungen an die letzten beiden Tage vor dem Koma habe ich nicht mehr.
Mathematische Logik habe ich noch nie richtig kapiert. Doch bin ich pragmatisch veranlagt und so schlussfolgerte ich: „Gut, jetzt bin ich ja wieder wach. Wann kann ich nach Hause?“
Es folgten lange, geduldige Erklärungen meines Mannes, unterbrochen von meinem Geheule. In den nächsten Tagen begriff ich mit meiner pragmatischen Logik die Tragweite der Situation dann doch. Nämlich dann, als am nächsten Morgen eine lecker duftende, frisch gebügelte Krankenschwester an mein Bett trat, mir erklärte, dass sie mich heute in der Tagschicht betreute und mich erst einmal waschen würde. Sie kämmte mir anschließend die Haare und richtete mein Kopfende auf, damit ich mein erstes Frühstück seit langem zu mir nehmen konnte. Eigentlich war ich schon total geschafft vom gewaschen-werden. Es gab ein kleines Becherchen Erdbeerquark, Puddingsuppe und noch irgendetwas zu essen. Der Versuch, selbst zu essen, scheiterte, weil ich nicht mal meinen Löffel halten und zum Mund führen konnte. Also wurde ich gefüttert. Und so wurde ich auch auf den Schieber geschoben und der Kathederbeutel meines Blasenkatheders regelmäßig geleert. Tag für Tag. Immer wieder mit anderen Schwestern und Pflegern.
Deine geplanten Workshops? Abgesagt!
In den 6 Tagen meines Komas hatte mein Mann vieles übernehmen müssen. Meine Geschäftskontakte angesprochen, E-Mails beantwortet und Mailboxen abgehört, Versicherungen kontaktiert, Ärzte ausgefragt, einen Freund mit medizinischem Hintergrund kontaktiert. Ihm war klar, dass es dauern würde, bis ich wieder auf die Füße kam. Mir nicht. Ich ging davon aus, dass ich nach 1-2 Wochen wieder die Alte bin. So folgte die nächste Erdung wie ein Schlag mit dem Hammer: „Deine Schüler- und Studentenworkshops im Mai? Das wird nichts. Habe ich schon mal abgesagt.“ Meine zuversichtliche, heisere Entgegnung: „ach, vielleicht ja doch…“, wurde über den Haufen geworfen, als ich einen weiteren Tag später mit zwei Physiotherapeutinnen beginnen sollte zu laufen. Und ich schon völlig außer Atem war, als man mich auch nur im Bett aufgesetzt und die tausend Kabel und Schläuche sortiert hat, um mich auf die Füße zu stellen. Kaum berührte ich den Boden, sackte ich zusammen und fiel mit dem Kopf genau ins Dekolleté einer meiner Therapeutinnen. Lauf-Lektion 1 beendet. Und Lektion 1 im Erkennen der Sachlage absolviert.
Genetisch bedingter Immunglobulinmangel ist kein simpler Schnupfen
Ärzte kamen und sprachen mit mir. Unter anderem auch: „…wir waren erschrocken über den schlechten Zustand, in dem Sie sich bei Ihrer Einlieferung befanden, Frau Carlile. Zudem wir erfuhren, dass Sie sich in hausärztlicher Behandlung befanden. Da kann es nicht sein, dass jemand eine so schwere Lungenentzündung entwickelt. Hätte Ihr Mann einen weiteren Tag gewartet, hätte nicht mehr der Krankenwagen vor Ihrer Wohnung gehalten sondern das Auto mit den Gardinen in den Fensterscheiben. …. Wir raten Ihnen dringend, sich einen anderen Hausarzt zu suchen. …. Und wir raten Ihnen dringend, sich um Ihren Immundefekt zu kümmern. Warum haben Sie dazu nie eine Therapie begonnen?“ Ich gebe ja zu, sie haben versucht, mit mir sehr fürsorglich und vorsichtig zu sprechen. Doch ihre Ansagen saßen. „Danke, dass Sie mir geholfen haben, dem Tod von der Schippe zu hüpfen“, krächzte ich sie an.
Die Sache mit dem Gendefekt…
Ja, die wusste ich schon seit knapp 11 Jahren. Dass ich seit meiner Kindheit häufiger mit Infekten zu kämpfen hatte als jeder andere, gehörte irgendwie zu meinem Leben. Mit Stempel und Unterschrift: ‚…naja, die Petra ist halt ein Sensibelchen…‘
Ich erklärte den Intensivstationsärzten, warum ich mich damals gegen eine Therapie entschied. Dass etwas nicht stimmte mit meinem Blut, erkannte meine Heilpraktikerin 2008. Ja, ich weiß. Eine Tatsache, die Mediziner nicht so gern hören… Nach genauer Abklärung in einer Hämatologisch-Onkologischen Praxis ging ich mit dem Befund „Immunglobulinmangel auf Grund eines genetischen Defekts“ zu meiner damaligen Hausärztin. Die sich wunderte, dass ich überhaupt ein solches Blutbild habe machen lassen. Solche Werte würde sie nur ermitteln, wenn ein Tumorverdacht vorläge. Und häufige Infektanfälligkeit, damit hätten auch andere zu kämpfen. Mit viel Bewegung an der frischen Luft, ausreichend Schlaf, gemäßigtem Sport und gesunder Ernährung und täglich einer Flasche Orthomol bekäme ich das schon hin.
Nicht verzagen, Google fragen
Ich hatte damals selbst recherchiert und Dr. Google befragt. Die mir fehlenden Immunglobuline kann man regelmäßig per Infusion zuführen. Das Präparat würde aus Blutspenden gewonnen. Und die beschriebenen Nebenwirkungen waren nicht ganz ohne. Ganz ehrlich – das hat mich abgeschreckt. Was hole ich mir an den Hals, wenn ich mir Fremdblutpräparate zuführe? Ich war darüber sehr in Sorge und fand keine schlüssige Antwort. Und wenn meine Ärztin sagt, ich brauche nur meine Lebensweise anzupassen, dann wollte ich nicht so herum weicheiern. So kam es, dass ich nach Kenntnisnahme nichts gegen meinen Immundefekt unternahm. Im Nachhinein fatal. Denn die Infektanfälligkeit häufte sich. Je öfter ich krank wurde, desto mehr Immunglobuline – also Abwehrteilchen im Blut – wurden verbraucht. Und weil mein Körper diese selbst nicht nachproduziert, lief ich langsam leer. Im letzten Jahr war ich kaum mal 4 Wochen frei von Beschwerden, und schon hatte mich ein nächster Infekt im Griff. Rückblickend habe ich keine Ahnung, wie ich meinen Alltag gemeistert habe, denn mein Energielevel sank immer weiter. Und ich glaubte immer noch, ich dürfte nicht so herum weicheiern. „Reiß Dich zusammen!“, war letztes Jahr mein Mantra.
Angeborener Immundefekt ist in Deutschland nicht sehr häufig. Man spricht von ca. 100.000 Patienten. Damit sind die bekannten Fälle gemeint. Viele niedergelassene Ärzte kennen sich mit diesem Thema nicht aus oder haben davon noch nie etwas gehört. Und mit Sicherheit gibt es noch viele Menschen, bei denen ein solcher Defekt nicht erkannt wurde. Viele haben eine jahrelange Odyssee hinter sich, bis endlich die korrekte Diagnose gestellt wurde. Manche entwickeln parallel dazu Autoimmunerkrankungen und haben ein viel schwereres Paket zu tragen.
Was hab ich Schwein gehabt!
Mein Paukenschlag, die schwere Lungenentzündung, hat mir schon gereicht. Auch noch einige Monate später muss ich auf meine Lunge achten, die noch nicht 100% wieder leistungsfähig ist. Und die Erkenntnis aus meinen Erlebnissen Anfang April ist: Ich hatte unglaubliches Glück und jede Menge Schwein! Mit seiner Entscheidung, mich ins Krankenhaus zu bringen, hat mein Mann mir das Leben gerettet. Denn meine bis April zuständige Hausärztin hat es nicht überrissen. Doch kompetente Ärzte im Krankenhaus Harlaching haben es geschafft, dass ich Gevatter Tod von der Schippe springen konnte.
Deshalb ist der 08.04. ab sofort mein zweiter Geburtstag. Und wird jedes Jahr begangen.
Happy Birthday to me, happy Birthday to me, happy Birthday, happy Birthday, happy Birthday tooooo meeeeee!
Danke an:
Ich lag übrigens im Krankenhaus in München Harlaching. Und bin froh über kompetente Mediziner der Pneumologie und Intensivmedizin. Prof. Dr. Meyer und Oberarzt Dr. Peter Kreutz möchte ich dankbar erwähnen, ebenso all ihre Kolleginnen und Kollegen, die Tag und Nacht auf der Intensivstation über mein Wohlergehen wachten und dafür sorgten, dass ich heute wieder gut durchatmen und leben kann. Ebenso denke ich an die zahlreichen engagierten Pfleger, Krankenschwestern und Physiotherapeuten, die mir mit ihrer Fürsorge und Kompetenz halfen, Schmerzen zu lindern und Mut zu fassen. Ihr macht alle einen tollen Job! Und dafür seid Ihr verdammt unterbezahlt!